Der sel-fie-bernden Welt den Spiegel vorgehalten

Brauers Theaterkurs 4. Semester inszeniert schwere Kost: Canettis Komödie der Eitelkeiten

Freitag, 29.5.2015, Pausenhalle der Sankt-Ansgar-Schule. Eine uneitlere Bühne lässt sich kaum denken für ein Stück, das den Versuch der Abschaffung menschlicher Eitelkeit bis zum bitteren Ende durchspielt. In T-Form ragt die halbhohe Szene in den überfüllten Zuschauerraum, der immer wieder in die mitreißende Inszenierung einbezogen wird – wie auch das Publikum selbst. Eingescannte Besuchergesichter werden im ersten Akt in einer rostigen Tonne, einziger Kulisse der kahlen Bühne, verbrannt: Um Eitelkeit zu bekämpfen sind nicht bloß Spiegel aller Art, sondern auch Fotos, Bildnisse, ja, sogar der Blick in reflektierendes Wasser bei drakonischer Strafe verboten. In einer neoreligiösen Handy-Opfer-Prozession wird Canettis Verhaltensstudie in das 21. Jahrhundert gehoben. Eine Reihe weiterer wunderbarer Regieeinfälle machen die schwere Kost des spaniolischen Autors verdaulich: Der Tanz im Stroboskoplicht parodiert den Vergnügungszwang in Bezahl-Diskotheken, die Bühne versinkt anschließend im Müll der Endzeit-Party, Spiegel werden zertrümmert, Spiegelblicksüchtige vegetieren in stöhnender Agonie über die Szene verteilt. Dann aber naht Rettung. Weil die Menschheit ohne Selbstbespiegelung krepieren würde, weil mit der Selbstliebe die Nächstenliebe stirbt, wird der Blick auf das eigene Konterfei kommerzialisiert und alle, die zahlen können, dürfen sich selbst wieder betrachten. Im Spiegelkabinett finden sie sich wieder – vom bigotten Prediger über die korrupten Wirtschaftsführer bis hin zum gewalttätigen Kleinbürger.

Wir haben bestes Schultheater gesehen, voller spontaner Energie und unbedingter Hingabe, mitreißend gespielt, vor allem in den dramatischen Passagen, einmal auch anrührend im Erinnern an eine Liebeserklärung. Den enormen Arbeitsaufwand einer solchen Aufführung kann ermessen, wer den Originaltext im wienerischen Akzent, der ins Hochdeutsche übertragen wurde, liest. Etliche Texteingriffe waren notwendig, mehrere Darsteller mussten zwei Rollen übernehmen. Die Schauspielleistungen hielten die Illusion lebendig, was nicht einfach ist in derart abstraktem Theater. Die Textbeherrschung war gelegentlich etwas rau, aber dies wurde durch andere Glanzlichter aufgehoben.

Brauers Theaterkurs hat wieder einmal eine beeindruckende Teamleistung vollbracht, die Kittel-Brüder, treue Ansgar-Alumni, haben wieder einmal perfekte Technik geliefert und es erscheint wieder einmal wie ein Wunder, welche Ergebnisse unter so prekären Bedingungen erzielt wurden. Kleinere Längen vor der Pause waren eher dem Stück als der Truppe anzulasten. Vielleicht aber lag es auch nur am Sauerstoffmangel in der chronisch unterdimensionierten Pausenhalle. Ein wenig mehr Eitelkeit ist Sankt-Ansgar zu wünschen und wir geben die Hoffnung nicht auf, uns eines Tages in einer wirklichen Aula zu bespiegeln.

Andreas Goletz-de Ruffray (Text) |Knud Kamphues (Fotos)